Der Skischuh - Eine lange Geschichte
Der Skischuh - Eine lange Geschichte
Skischuhe sind das Bindeglied zwischen Mensch und Ski. Was der Skifahrer will, soll der Skischuh auf die Bindung und schließlich auf den Ski übertragen. Daran wurde schon immer gearbeitet. Das große Ziel: Skistiefel bei gleichsam hoher Fahrperformance so komfortabel wie möglich zu machen.
Gut 70 Kilometer nördlich von Venedig, in der Provinz Treviso in Venetien, liegt die Stadt Montebelluna – das „Silicon Valley“ der weltweiten Skischuhproduktion. Rund um die gut 30.000 Einwohner große Stadt stellen unter anderem Dalbello, Fischer, Lange, Rossignol, Scott und auch die Tecnica-Gruppe mit ihren Marken Nordica und Tecnica ihre Skischuhe her. Aber warum gerade hier, in einer Region, die deutlich näher am Meer als an den Gipfeln der Dolomiten oder Alpen liegt? „Das hat in dieser Gegend eine lange Tradition“, erläutert Alberto Contento, bei Nordica Produktmanager für die internationale Skischuh-Division. Bereits vor dem ersten Weltkrieg war Montebelluna für seine Schuster und die von ihnen hergestellten Straßenschuhe über die Region hinaus bekannt. Während des Krieges, in dem Italien gegen Österreich kämpft e, brauchten die Soldaten festes Schuhwerk. „Da lag es auf der Hand, dass die Schuster die Soldaten mit Stiefeln versorgten. Sie verfügten über die Expertise und waren geografisch gesehen nah am Geschehen, sodass die Transportwege an die Front kurz waren“, so Contento. Aus diesen Stiefeln haben sich dann die ersten Leder-Skistiefel entwickelt. In den Sechzigerjahren des vorherigen Jahrhunderts wurden die ersten Kunststoff –Skischuhe eingeführt, und damit war das Ende der Ära der Lederschuhe gekommen.
„Trotz dieses einschneidenden Wandels ist Montebelluna bis heute Ideenschmiede, Produktionsstätte und weiterhin das Aushängeschild für die Skischuh-Industrie“, erzählt Alberto Contento mit voller Stolz glänzenden Augen. „Das liegt natürlich daran, dass das Know-how und die Erfahrungen über den Skischuh-Bau über Generationen hier weitergegeben wurden – denn bei aller Industrialisierung und Digitalisierung ist die Fertigung auch heutzutage noch zu einem sehr hohen Prozentsatz Handarbeit.“
Bis zu 320 Einzelteile – von der kleinen Schraube bis zum Strap am Schaftabschluss – werden von den Facharbeitern nach detailliert vorgegebenen Produktionsplänen zusammengefügt. Für einen hochwertigen Innenschuh werden je nach Modell vier bis zwölf Arbeitsschritte benötigt, um die knapp 140 Einzelteile in zirka 25 Minuten zusammenzunähen. Die Schalen eines Skischuh-Paares bestehen aus zirka 180 Einzelteilen. Nach einer guten Stunde ist ein Paar Skischuhe fertig und wurde während der kompletten Produktion von ungefähr 100 Personen in Händen gehalten, bis es verpackt in Plastikfolie und in einem Karton in Richtung Lager geht.
Aber warum ist der Skischuh beim Skifahren ein so wichtiges Utensil und warum wollen wir uns alle nur ungern von einem passenden Skischuh trennen?
Unser Fuß besteht aus insgesamt 26 einzelnen Knochen, die über 37 Gelenke miteinander verbunden sind und von 107 Bändern gehalten werden. Im Fuß arbeiten 32 Muskeln mit ihren jeweiligen Sehnen zusammen. Und gleichzeitig übernehmen eine Vielzahl von Blutgefäßen und Nerven die Versorgung, um die komplexen Bewegungsabläufe beim Gehen, Laufen, Springen oder Skifahren umzusetzen. „Individualisierung ist einer der Haupttrends der vergangenen Jahre im Skischuh-Geschäft“, berichtet Contento, der vor seiner Zeit bei Nordica als Trainer im Skiweltcup gearbeitet hat. „Was bei den Top-Athleten schon immer gang und gäbe war, nämlich, dass die Skischuhe so optimal wie möglich auf die individuelle Fußform und die Bedürfnisse des Fahrers angepasst werden, hat seit einiger Zeit auch im Sportfachhandel und somit beim ‚Normalskifahrer‘ Einzug gehalten. Neuartige Materialien und Prozesse, wie beispielsweise die Schalen-Anpassung mittels Infrarot-Technologie, führen dazu, dass man heutzutage zahlreiche Individualisierungsschritte in vergleichsweise geringer Zeit durchführen kann – immer mit dem Ziel, den Skischuh so komfortabel wie möglich für jeden einzelnen Skifahrer zu machen, ohne dabei an Fahrperformance einzubüßen.“
Einen entscheidenden Beitrag zur Passform- und Komfortverbesserung haben in den vergangenen Jahren die modernen Fertigungsverfahren im Schalenbau geleistet. „Die Entwicklung einer neuen Skischuhlinie kostet uns ungefähr 1 Million Euro“, erläutert Contento beim Gang durch die Produktionshallen und den Prototypenbau. „Die Entwicklung eines Skischuhes ist eine Kunst, aber bedarf eines wissenschaftlichen Prozesses. Dieser wird gestützt von detaillierter Forschung und Entwicklung, um den Bedürfnissen und Wünschen der Skifahrer gerecht zu werden. Die nächste Phase ist das Design und der Prototypenbau. Auf dieser vorgelagerten Stufe beginnen die Tests. Sobald wir uns sicher sind, dass ein neues Design erfolgreich ist, fährt unser Ingenieursteam mit der Erstellung von 3D/CAD-Computermodellen fort. Jede Verbesserung wird immer und immer wieder überprüft.“
Durch innovative Verfahren, in denen unterschiedlich harte Kunststoffe in einem Spritzverfahren in 3D-Technologie verarbeitet werden, ist es heute möglich, an den Stellen, wo Stabilität und direkte Kraftübertragung gefordert sind, harte Kunststoffe einzusetzen, und dort, wo Flexibilität eine höhere Priorität hat, entsprechend weicheres, elastischeres Material zu verarbeiten. Mittlerweile werden bereits drei unterschiedliche Materialien in einer Schale verwendet: Die Schale, die den Fuß umgibt, muss stabil sein. Um den Schuh anziehen zu können, muss am Rist ein weiches, biegsames Material angebracht werden. Die Sohle aber muss möglichst abriebfest und haltbar sein. Hinzu kommen moderne, extrem fein justierbare Schnallen, die eine sehr individuelle Anpassung ermöglichen. Und auch für die Anpassung des Innenschuhs wurden in den vergangenen Jahren verschiedenste Technologien entwickelt. Von der Erhitzung, damit sich das Material des Innenschuhs beim Abkühlen passgenau um den Fuß und Unterschenkel schließt, bis hin zu in den Innenschuh eingebauten Kunststofftaschen, die mit einem zähflüssigen Material auf Paraffinbasis gefüllt werden können.
Für diejenigen, die mit einem Schuh „von der Stange“ nicht klarkommen, gibt es als Ausweg beziehungsweise Lösung des Problems immer noch den Weg zum Orthopädie-Schuhmacher oder zum Skischuhexperten/Boot Fitter. Hier können noch individuellere Anpassungen an der Schale durchgeführt werden oder mittels eines geschäumten Innenschuhs der Komfort nochmals verbessert und die Leistung und die Kraftübertragung gesteigert werden. Klar hat das alles seinen Preis. Aber wenn man sich die Vielzahl an Arbeitsschritten, die Investitionen der Hersteller sowie die Anzahl der Einzelteile vor Augen führt und dann die normale Halbwertzeit eines Skischuhs von ungefähr zehn Jahren bei durchschnittlich 10–14 Skitagen pro Saison dagegen hält, lohnt sich die Investition in einen passenden Skischuh auf jeden Fall.
Text: Florian Schmidt
Auszug aus dem DSV aktiv Ski & Sportmagazin 04/2018
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